Out of Neukölln

DieDebatte um den Neuköllner Bürgermeister Buschkowsy, um Unterschichtund Migranten, Integration und Förderung, Familienpolitik undTransferleistungen, um Meinungsfreiheit und Alkohol, Gutscheine undZahlungen, Pflichtkindergarten und Ganztagsbetreuung, sie zeigt: DieDeutschen haben lange nicht ernsthaft miteinander gestritten.

Bessergesagt: Der öffentliche Diskurs hat sie lange nicht vor dieHerausforderung gestellt, durch offene Diskussionen, die klareUmschreibung von Tatsachen und intensives Ringen unterschiedlicherMeinungen den zuletzt besten Lösungsweg zu finden. Allzu lange habenwir uns in einer scheinbar übersichtlichen Welt bewegt.Jahrzehntelang wurde praktisch jeder politische Disput unter zweiganz klare Gegensätze gefasst. Die einen, Fortschrittlichen, warensozial eingestellt und plädierten für auskömmlichsteUmverteilungszahlungen von den Reichen an die Armen; sie galtenzugleich als militärisch friedlich und umweltbewusst. Die anderen,Rückwärtsgewandten, galten als kalt und rücksichtslos; sie wolltennur Steuern sparen, notfalls gegen die Gesetze, und ihnen war dasSchicksal der Benachteiligten unserer Welt eigentlich egal. Jedegesellschaftliche Frage wurde in diese Kategorien gezwängt. Entwederman gehörte zu den einen oder man zählte zu den anderen. EinDrittes gab es nicht. Eher sah man noch die Ränder dahinter; aberdie waren ohnehin nicht salonfähig und folglich blieben sie für dasallgemeine Gespräch irrelevant.

DieKehrseite dieser lange gepflegten Vereinfachung zeigt sich nunoffenbar in ganzer Konsequenz. Die Öffentlichkeit hat verlernt, zustreiten. Sie differenziert nicht zwischen Themen undGesichtspunkten. Sie hält Unterschiedliches nicht auseinander undwirft stattdessen munter alles durcheinander. In der sich dabeientwickelnden Unübersichtlichkeit neigen dann nicht wenige zuNervenschwäche und emotionalen Überreaktionen. Statt über das zureden, worum es eigentlich geht, verliert sich der Streit inAbirrungen und persönlichen Vorhaltungen. Zuletzt sind dieWütendsten mit Worten gar nicht mehr zu erreichen. Sie flüchtensich in ihre schützenden Vorurteile und verweigern sich selbst denBlick auf das, was vor uns liegt. Dies ist insbesondere dann fatal,wenn der verlernte Meinungsstreit sich zu allem Unglück gleich nochauf Themen bezieht, die ihrerseits lange hätten erörtert wordensein müssen, es aber aus vielleicht falsch verstandenen, allzutabugläubigen Rücksichtnahmen – nicht wurden. Versuchen wir,nüchtern, eine Ordnung der Streitpunkte.

Ja,es gibt Migranten. Und ja, es gibt eine Unterschicht aus armen,unerzogenen, ungebildeten, zu einer Berufsausübung nicht fähigenMenschen. Es gibt auch Überschneidungen zwischen diesen Gruppen, ja.Und dort, wo sich das Elend aus alledem sammelt, da entstehen Orte,die wir „soziale Brennpunkte“ nennen. Buschkowskys Neuköllnist einer dieser Orte. Dort herrschen Nöte und Gewalt,Perspektivlosigkeit und Verzweiflung. Es ist kein guter Ort fürKinder. Denn Eltern, die diese Kinder in ein gutes Leben führenkönnten, gibt es dort vielfach nicht. Wie sollte auch einErwachsener, der sein eigenes Leben nicht aus eigener Kraft meistert,seinem Kind einen Weg in ein solches gutes Leben weisen? DieVermutung spricht dagegen. Und unsere Herzen sagen uns, dass genauhier mitmenschliche Hilfe geboten ist. Mehr noch: Uns drängt sichals plausibel auf, dass dort Hilfe notfalls auch gegen die fehlendeEinsicht von Eltern, zum Wohl der Kinder, geboten sein kann. Indesist Neukölln ebenso wenig Deutschland, wie die Bronx Amerika oderSomalia die Welt. Was dort geboten sein mag, ist es nicht an vielenanderen Orten Deutschlands. Denn nicht ganz Deutschland ist ein“sozialer Brennpunkt“. Folglich können die für Neuköllnangemessenen Maßnahmen nicht unbedachtsam dieselben Maßnahmen sein,mit denen Politik in München-Bogenhausen, in Meerbusch oder auf Syltagiert. Konkret: Auch wenn es in Berlin geboten sein mag, gewissenEltern von gewissen Kindern kein Bargeld in die Hand zu geben, weildort der konkrete Verdacht einer zweckwidrigen Verwendung besteht, solässt sich daraus nicht der allgemeine politische Schluss ziehen,alle Eltern von allen Kindern an allen Orten in Deutschland würdenin dieser Weise gegen das Wohl ihrer eigenen Kinder handeln. Folglichbesteht auch nicht ansatzweise ein zwingender Grund, die Kinderdieser Eltern gesetzlich unter Androhung von Zwangsmaßnahmen zuverpflichten, ab einem bestimmten Alter einen Kindergarten zubesuchen oder sich sonst öffentlichen Sozialisierungsmaßnahmen inder Regie unpersönlich-professioneller Tagesmütter zu unterziehen.Familienpolitik heißt nämlich nicht, Eltern und Kinder nachMöglichkeit so früh organisatorisch voneinander zu trennen, daßEltern – unter dem in die Jahre kommenden Kampfbegriff einer“Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ – möglichst viel undlange steuerpflichtig arbeiten und Kinder möglichst schnell undkostengünstig ihrerseits zu staatsfinanzierendenWirtschaftseinheiten geformt werden. Familienpolitik heißt: Elterndiejenigen Freiräume zu belassen, die sie brauchen, um mit sich undihren Kindern ein glückliches und erfülltes gemeinsames Leben zuleben.Ein solches erfülltes und gutes Leben in derGemeinschaft setzt allerdings voraus, dass alle Beteiligten auch gutmiteinander umgehen. Die Fähigkeiten für ein solches Leben werdenMenschen nicht angeboren. Sie müssen sie erlernen. Das geschiehtüblicherweise und am besten zuerst in der eigenen, vertrautenFamilie. Denn wenn der junge Mensch dort anfangs immer wieder Fehlermacht, aneckt und sich reibt, dann wird ihm all dies aus einemeinfachen Grund verziehen: Weil es in der Familie einen engenZusammenhalt und eine naturgegebene Verbindung, bestenfalls Liebe,gibt.  In diesem Umfeld kann Integration gelernt werden. DennIntegration heißt Einfügung und sie erfordert Anpassung. Wirklichessoziales Gemeinschaftsleben setzt Rücksichtnahme und Anpassunganeinander voraus. Wer sich nicht einfügt in den Kontext derGemeinschaft, der bleibt außen vor. Je länger Menschen aber insolcher Isolation verbleiben, desto schwieriger wird ihnen der Wegzurück in die Gesellschaft.

Wirin Deutschland haben uns – aus bekannten und im Ansatz fraglosrichtigen historischen Gründen – die Pflicht auferlegt, mitNicht-Deutschen einen vorbildlichen Umgang zu pflegen. AusFremdarbeiten wurden daher erst Gastarbeiter, dann Ausländer undschließlich Mitbürger mit Migrationshintergrund. Die Vorstellung,ihnen Anpassungsleistungen an unsere Gesellschaft abzuverlangen,schien vielen abwegig. Wir ließen sie, wie sie waren. Und wirakzeptierten – mit vielerlei gesetzlichen und behördlichen Maßnahmen- zunehmend ihre Isolierung aus den allgemein bestehendengesellschaftlichen Kontexten. Plötzlich sprach die dritte Generationder Einwanderer in das Nichteinwandererland Deutschland aber keinDeutsch mehr. Plötzlich gab es keine verbindende Sprache mehr in denGrundschulen des Landes, wo – an den „sozialen Brennpunkten“- deutsche Muttersprachler auf einmal die Minderheit waren. Wiekonnte das geschehen? Die Antwort ist bitter: Der sozialstaatlichvermeintlich vorbildliche Umgang mit jenen Migranten, die politischeBereitschaft zu ihrer schrankenlosen Alimentation und das allgemeinanerkannte Tabu, ihnen Integration in der Gestalt von mitwirkendenAnpassungsleistungen abzuverlangen, stürzten diese Gemeinschaftenimmer weiter in die Isolation von der sie umgebenden Welt namensBundesrepublik. Galt nicht selbst die Forderung nach nur sprachlicherAnpassung schon manchen als Ausdruck einer unerträglichenLeitkultur? Sehen wir es ein: Der Sozialstaat mit seiner schierunendlichen Zahlungsbereitschaft und mit der Scheu, ihre Mitarbeit zuverlangen, hat die Lage dieser Abgehängten erst maßgeblich selbstgeschaffen und intensiviert. Mehr noch: Mit aberwitzigenKonstruktionen wie dem des Mindestlohnes werden denunterdurchschnittlich Produktiven sogar aktuell ihre letzten Chancenverbaut, noch einmal realistisch Anschluss zu finden. Sie sindsozialstaatlich verurteilt zu  einem Leben in Abhängigkeit.

Wersich diese Zusammenhänge einmal vergegenwärtigt hat und wer die inden sozialen Parteien Verantwortlichen für diesen gesellschaftlichenSkandal erkennt, der muss schaudern, wenn nun aus genau diesen Reiheneiner hervortritt und den Opfern dieser PolitikVerantwortungslosigkeit vorwirft. Denn jene Politik hat genau dieseLage zuvor selbst mit geschaffen. Ebenso, wie wir erkennen, dass“Familienpolitik“ inzwischen genau das Gegenteil dessenist, was sie nach ihrem Namen zu sein vorgibt – nämlich längstPolitik gegen familiäre Zusammenhalte -, ebenso ist „Sozialpolitik“im Transferleistungsstaat zum Gegenteil dessen geworden, wonach sieklingt: Sie fördert nicht den soziale Zusammenhalt, sondern siesprengt ihn, sie trennt und sie isoliert, sie verweigert ihrenpolitischen Opfern den eigenen, authentischen Kontakt zurWirklichkeit.

Stattaber diese Fehler nüchtern einzuräumen, statt nun demütigabzurücken von den Tabukonventionen der Vergangenheit und mit derFehlerreparatur zurück zur gesunden Subsidiarität zu beginnen,heben nun die Gesänge des Vorwurfes an. Die Armen versaufen ihreSozialhilfe. Sie sind verantwortungslos. Geld darf nicht in ihreHände kommen. Mit anderen Worten: Derselbe Staat, der sie in dieseprekäre Situation mit seinen Bevormundungen erst hineinmanövrierthat, maßt sich nun das Urteil an, ihnen durch noch mehr Bevormundungden rechten Weg zu weisen. Mit Gutscheinen und Sachleistungspolitikwill er sie wieder – diesmal machtvoll – auf einen guten Pfad führen.Als wäre dies alleine nicht perfide genug, weil es nun denknotwendigalle hergebrachten Zurückhaltungen gegen Anpassungszwänge fallenlässt, wird diese Politik nun auch noch mit verbal entgleisendenVerhöhnungen verbunden. Einer, der in seiner Not und Verzweiflungkeinen anderen Ausweg sieht, als zur Flasche zu greifen, wirdplötzlich nicht mehr – wie sonst üblicherweise – als suchtkranktituliert und elaborierten Therapien gegen Polytoxikomanieunterzogen. Er ist nun nur noch ein „Säufer“. Mehr noch:Alle sind nun plötzlich solche, die ihre „Stütze versaufen“,sofern sie nur in das definitorischen Raster der Unterschichtfallen.Von einem Extrem in das andere. Gesund ist das nicht.Und eine schöne Debattenkultur spiegelt es auch nicht wider.Stattdessen heißt es, die groteske Pöbelattacke des Lokalpolitikersfalle unter die Meinungsfreiheit. Ob diejenigen, die da so pauschalgleich alle Schwächsten der Schwachen über einen Flaschenhalskämmen, sich wegen einiger korrupter Beamter hier und dort auchgetraut hätten, zu sagen, „die“ Beamten veruntreuen unserGeld? Hätten sie wegen einiger gewalttätiger Polizisten erwogen zu sagen, „alle“ Polizisten sind Schläger?Natürlich – und völlig zu Recht – nicht! Weil es Unsinn gewesenwäre. So wie es Unsinn ist, zu sagen, alle Unterschicht-Elternsaufen, statt für ihre Kinder zu sorgen. Und so, wie es Unsinn ist,zu sagen, alle Kinder aller Eltern müssten nun zu ihrem eigenen Wohleiner frühkindlichen Staatserziehung zugeführt werden.

ImStraßenverkehr gibt es, beim Autofahren, eine goldene Regel: Jeschneller das Auto fährt, desto langsamer müssen die Bewegungen desFahrers im Inneren werden. Wünschen wir uns für die Debattenkulturim Autofahrerland Deutschland dies: Je haariger die Themen werden, umdie wir streiten, desto emotionsloser muß unsere Wortwahl werden undumso sachlicher der Blick auf die Tatsachen, um die es geht. Wenn unsdies nicht gelingt, wären sechzig Jahre Vorarbeit für ein besseresDeutschland schnell verspielt. Diese Verantwortung für einen gutenStreit, hin zu guten Lösungen, kann keinem einzelnen von unsgenommen werden.

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