Sonne, Mond und Praxisgebühr

von Carlos A. Gebauer

Wissen ist das Gegenteil von Irren. Folglich müssen Wissensgesellschaft und Irrtumsgesellschaft enger miteinander verwandt sein, als wir oft glauben. Mit anderen Worten: Weil Irren genauso menschlich ist wie Wissen, irren bisweilen alle Menschen – vielleicht sogar manchmal ich.

All dies zu wissen, fand ich irrsinnig interessant. Und ich beschloß, der Sache näher auf den Grund zu gehen. Was mich beschäftigte, war: Sind es immer neue Irrtümer, die die Menschen befallen, oder gibt es möglicherweise eine Art klassische Kategorie von Denkfehlern, die immer wieder begangen werden? Auf der Suche nach tiefschürfender Erkenntnis griff ich zum ältesten Buch meiner Bibliothek. Und ich erfuhr Unglaubliches.

Die Älteren von uns erinnern sich vielleicht noch: Früher glaubte man, die Erde sei eine Scheibe. Über dieser Scheibe war demnach eine gigantische Art Leinwand gespannt – das „Himmelszelt“ – an der (oder über der) sich das alltägliche Wechselspiel von Sonne, Mond und Sternen ereigne.

So beobachtete man jahrhundertelang den Lauf der Sterne in ihren Kreisbahnen auf dem Himmelszelt. Bis eines Tages irgendjemand lamentierte, daß diese Kreise nicht wirklich rund wären. Ein anderer meinte, die Himmelskörper flögen nicht wirklich konsequent geradeaus. Sondern sie hätten augenscheinlich bisweilen die Idee, ein Stück zurück zu fliegen. Und wirklich taten die Planeten nicht ständig das, was man von ihnen erwartete.

Da begannen die Menschen zu streiten über den Gang von Sonne, Mond und Sternen. Niemand bei dem Streit zog allerdings in Betracht, daß der Ausgangspunkt falsch sein könnte, wonach die Erde stets im Mittelpunkt von allem stünde. Denn allen war klar, daß sich die Sonne um die Erde, nicht aber die Erde um die Sonne drehen müsse. Mindestens gab es niemand öffentlich zu. Was man statt dessen tat, war: Man „verbesserte“ die Theorie und erfand sogenannte „Hilfszirkel“. Nach wie vor ließ man also – in der Theorie – die Himmelskörper um die Erde kreisen, dichtete ihnen aber an, sie beschrieben auf ihren Kreisbahnen lustige kleine Zusatzrotationen. Teilweise bis zu 80 und mehr pro Planet. Mit diesen Hilfszirkeln blieb das Dogma unangetastet und trotzdem schien eine Erklärung für die merkwürdigen Hin- und Herbewegungen der Planeten gefunden. Alles in allem ein stolzes Projekt, mit tragisch verbrannten Himmelskundlern, entzürnten Gottesdienern und nicht zuletzt dem weltberühmten Widerruf Galileis. Spät erst löste dann das heliozentrische Weltbild das geozentrische ab.

Diese geradezu interstellare Geschichte näherte mich wieder dem Gedanken, ob es nicht doch Kategorien klassischer Irrtümer gebe. Wer nicht bereit ist, den Grundfehler seiner Erklärungsversuche für die Welt zu erkennen und zu beseitigen, der muß sich notwendigerweise immer tiefer verheddern in Reparaturanstrengungen seines Modells.

Plötzlich sah ich unser deutsches Gesundheits-System in ganz anderem Licht. Dort nämlich herrscht auch ein Dogma: Das Dogma des Sachleistungsprinzipes und also das Dogma der Geldlosigkeit. Ärztliche Leistungen dürfen für Patienten kein Geld kosten, weil Geld – so der Glaube – medizinisch ungerecht sei. Folglich wird geldlos mit Versichertenkarten „bezahlt“. Doch irgendwie funktioniert es seit jeher nicht. Aber niemand wagt, das Dogma anzutasten. Nur ein Hilfszirkel wird konstruiert, zuletzt etwa: Die Praxisgebühr. Es bleibt abzuwarten, wann das Geldlosigkeits-Dogma offiziell fällt. Die katholische Kirche hat immerhin schon 1984 zugegeben, daß sich die Sonne nicht um die Erde dreht.

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