Friedrich Merz entknotet die Gesundheitsfrage

Am Beginn jeder seriösen Therapie stehen Anamnese und Diagnose. Für die Heilung eines multimorbiden Gesundheitssystems kann anderes nicht gelten. Friedrich Merz hat daher 22 Autoren aus unterschiedlichen Perspektiven gebeten, das monströse Knäuel des deutschen Gesundheitswesens zu entwirren. Die hierbei präsentierten einzelnen Fäden schaffen in der Tat erfreulich deutliche Ein- und Übersichten.

Geradezu erwartungsgemäß resultieren die größten Erkenntnisgewinne jener Diagnostik jedoch nicht aus den politischen Fakultäten. Denn deren Hauptaugenmerk liegt allzu gerne – wie Bert Rürup mit dem Blick des Eingeweihten schonungslos offenbart – in der Konstruktion unverbindlicher „black boxes“, deren politischer Wert ihre Unangreifbarkeit gegen Kritik sei.

Herausgearbeitet wird vielmehr quer durch alle Beiträge das Widerstreiten von mechanischer Naturwissenschaft einerseits und technisch nicht beschreibbarer Heilkunst andererseits. Die eine Linie der Fortentwicklung des Systems konzentriert sich daher nur folgerichtig auf die gleichsam tayloristische Dimension der Standardisierung von medizinischen Abläufen. Eine andere betont Zuwendungsaspekte, historisch verortet bei Paracelsus, der die Liebe des Arztes zum Patienten in den Mittepunkt des Heilens stellte. Welcher Weg ist nun richtig, welcher besser?

Unter dem Gesichtspunkt ökonomischer Beherrschbarkeit kann nicht erstaunen, daß qualitätssichernde Flussschemata die „Industrialisierung des Krankenhauses“ einleiten und ihr als Königsweg erscheinen. Der Gefahr einer Entmenschlichung wirke, meint Eugen Münch, die „Sicherheit aus Professionalität“ entgegen. Frei entfesselte Heilkünstler müssen in dieser Weltsicht geradezu zwangsläufig in den wirtschaftlichen Ruin führen. Umgekehrt kann die strikte Einbindung des jeweiligen Behandlungsgeschehens in starre Normvorgaben ebenfalls keine Rettung verheißen. Denn der administrative Aufwand ihrer Verwirklichung verschlingt genau die Ressourcen, derer die Medizin selbst bedarf. Jörg-Dietrich Hoppe reklamiert daher Niederlassungsfreiheit, freie Wahl des Arztes und Therapiefreiheit. Einen jeden Patienten wird es freuen.

In blitzgescheiten Beiträgen und mit dankenswert klaren Worten geißeln Erik Händeler und Reinhard Bauer quasireligiöse Erlösungserwartungen an den Staat ebenso wie die sozialromantischen Opferrituale unserer Politik auf den Altären tagespolitischer Opportunitäten. Cornelia Yzer erläutert, warum zunehmend unkalkulierbare politische Reformschritte das pharmazeutische Unternehmertum in Deutschland zu einem Lotteriespiel machen und Günter Dibbern erklärt anschaulich die gezielte wirtschaftliche Auszehrung der privaten Krankenversicherung, sofern nicht endlich der Mut gefunden werde, wieder „die richtigen Schritte zu gehen“. Warum gute Medizin auch rationale wirtschaftliche Rahmenbedingungen braucht, legen Heinrich M. Schulte und Rolf Günther nüchtern dar. Konrad Adam entzaubert den Glauben an bürokratisch sichergestellte Volksgesundheit mit Blicken nicht nur auf die schon gescheiterte britische Bürgerversicherung.

Rechtspolitisch unkommentiert referieren Alexander P. Ehlers, Horst Bitter, Simone von Hardenberg, Thorsten Ebermann und Antje-Katrin Heinemann diverse Stände des derzeitigen Gesundheitsrechtes. Eine verfassungsrechtliche Wertung beispielsweise des Umstandes, daß die Anstellung eines Arztes im vertragsärztlichen Bereich der behördlichen Genehmigung bedarf, und eine Stellungnahme zum Verständnis der eigenen gesundheitlichen Prävention als „gesellschaftlicher Pflicht“ hätten diese Beiträge allerdings abgerundet. Dabei hat doch gerade dieses Pflichtverständnis des Einzelnen gegenüber der Allgemeinheit durchaus einen „ambivalenten Charakter“, wie Peter Oberender und Jürgen Zerth eher noch vorsichtig formulieren.

Die Verwirrungen und Unsicherheiten zwischen den Extremen ärztlicher Liebe hier und Zwangsverwaltungswirtschaft dort finden sich nämlich zwangsläufig auch in der konkreten Betrachtung der jüngsten Gesetzesänderungen. Entwickelt sich vor unseren Augen ein mehr privatisiertes System oder dringt „mehr Staat“ ein? Interessanterweise fürchtet Herbert Rebscher beides, wiewohl er ein „Erwachsenwerden der Krankenkassen“ zu begrüßen scheint. In seiner Doppelfurcht spiegelt sich jedoch ganz symptomatisch auch die Fragwürdigkeit der gegenwärtigen Gesetzgebung insgesamt. Können Behörden überhaupt miteinander in Wettbewerb treten? Und sind sie legitime „player“, wie Rebscher meint, mit der Gesundheit ihrer Mitglieder? Nicht zuletzt derartige grundsätzliche Desorientierungen seiner Protagonisten machen es der Politik bislang so leicht, einzelne Argumentationsstränge in ihrer „black box“ zu undurchsichtigen Bündeln zu schnüren.

In seiner Schlussbetrachtung zeichnet Matthias Horx die Schreckensvision einer Renaissance des Totalitären. Eine „Oberste Health Behörde“ zwingt den einzelnen mit „knallharter Sanktion“ zu gesellschaftsdienlicher Prävention an seinem Körper. Ihr stellt er eine Fusionsmedizin gegenüber, die Brücken schlägt zwischen Technik und Seele, für die Zeit nach dem finanziellen Kollaps des gehabten Systems. Denn die Zukunft liegt nicht da, wo man seiner Krankenkasse rechenschaftspflichtig ist, sondern dort, wo jeder einzelne „gesundheitsklüger“ geworden sein wird.

Dem fast ausnahmslos lesenswerten Werk ist weithin Gehör zu wünschen. Denn die Zeit, in der – mit den Worten Reinhard Bauers – „die Zahl der Ideologen leider größer als die der Experten“ ist, muß zügig ein Ende finden, um an die Diagnostik eine kluge Therapie anzuschließen.

Rezension
von Carlos A. Gebauer, Rechtsanwalt in Duisburg

Friedrich Merz (Hrsg.)Wachstumsmotor Gesundheit: Die Zukunft unseres Gesundheitswesens Carl Hanser Verlag München, 2008, 406 Seiten, € 19,90 ISBN 978-3-446-41456-3

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