Fürchte Dich nicht – Benimm‘ Dich!

Furcht ist – in der Definition des Deutschen Wörterbuches von Jacob und Wilhelm Grimm – jene Seelenregung, die etwas Gefährliches fernhalten möchte. Sie motiviert den Fürchtenden, zu seiner eigenen Sicherheit von möglicherweise Schädlichem zurückzuweichen. Ein solch vorsichtiges Aus-dem-Weg-Gehen ist also nicht von Klugheit geprägt. Wer aus Furcht auf Abstand geht, der tut dies vielmehr in einem Zustand, in dem ihn eine Aufwühlung durchdringt. Er sehnt sich, verschreckt, nur noch nach rückwärts. So sehr, dass er keinen Schritt vorwärts mehr wagt und, wenn möglich, am liebsten noch hinter sich selbst zurückträte.

Von klein auf ist uns Menschen dieses Gefühl der furchtsamen Rückwärtswendung bekannt. Bei jedem Kind lässt sich beobachten, wie es die Welt tastend zu erkunden wagt. Schritt für Schritt zieht die Neugier es weg von den Eltern, bis zu dem Punkt, an dem ihm eine Unsicherheit spürbar wird. Die gibt ihm gleich Anlass, schnell zurück zu Mutter oder Vater zu laufen. Gelingt der Rückzug in vertraute Gefilde dann nicht sofort und hindernisfrei, verwandelt sich die erwachte Furcht in Schrecken. Aus Aufwühlung erwächst dann blankes Entsetzen.

Das vergangene Jahr 2020 hat weltweit Gelegenheit geboten, die Zusammenhänge zwischen einerseits der Furcht und andererseits der Kontrolle zu studieren: Auch Erwachsene verlieren augenscheinlich die Beherrschung über sich selbst, wenn sie von jener furchtsamen Aufwühlung durchdrungen sind. Es genügt, sie über die Schwelle zwischen Sicherheit und Schrecken in das Entsetzen zu führen, um diesen Effekt auszulösen. Spiegelbildlich kann also jener die kontrollierende Herrschaft über sie erlangen, sofern er nur ihre Furcht kontrolliert. Noch nie vor diesem Jahr 2020 habe ich selbst die elementar entwaffnende Kraft eines Imperatives verstanden, den ich doch mein ganzes Leben schon kenne. Er lautet: «Fürchte Dich nicht!»

Die Flucht des Furchtsamen zurück in vertraute Umgebung muss wohl als eine Art Urinstinkt verstanden werden: Ein angeborener Naturtrieb, um uns Leben und körperliche Integrität zu schützen. Erkennen wir eine Gefahr, weichen wir ihr auf diese Weise aus, ohne erst grübelnd zu zögern. Das Blut schießt in die Beine. Und die rennen los. Ein Teil unserer Aufmerksamkeit ist folglich stets auf die Beobachtung der Umwelt gerichtet, um entsprechende Risiken schon im Vorfeld zu erspüren.

Weit über unsere eigene Spezies hinaus nutzen Lebewesen den besonderen Vorteil, den es unter solchen Sicherheitsgesichtspunkten bietet, unter seinesgleichen zu sein. Wo könnte ein kleiner, zarter Vogel sich sicherer ausruhen und vielleicht sogar ein wenig die Augen zum Kräfteschöpfen schließen, als – umgeben von Massen seiner Artgenossen – in luftiger Höhe sitzend auf einem Hochspannungsmast? Die Nähe zum Mitgeschöpf hilft, dessen Aufmerksamkeit auch zum eigenen Selbsterhalt nutzen zu können. Droht Gefahr, schießt der ganze Schwarm tosend in die Höhe, weckt also den Dösenden, ermöglicht ihm die Flucht und erhält ihm so sein Leben. «Willst Du schnell vorankommen, dann geh alleine. Willst Du weit kommen, dann geh mit anderen», sagt ein afrikanisches Sprichwort weise.

In diesem Kontext wird das gleichsam Teuflische an einer Seuche, an einer Epidemie, an einer Pandemie, überdeutlich: Der Naturtrieb, unter seinesgleichen Schutz zu suchen, das Verlangen also, der Gefahr in Gemeinschaft mit Stärke zu trotzen, kann nicht erfüllt und befriedigt werden. Denn just genau da, wo wir üblicherweise in Sicherheit sind, bei und mit anderen, lauern nun plötzlich der Tod und das Verderben. Die natürliche Schutzschicht der sozialen Umgebung wandelt sich in einen Belagerungszustand: Von jedem Artgenossen gehen plötzlich kontinuierliche und – besonders tückisch – unmerkliche Lebensgefahren aus. Und damit nicht genug. Selbst der innersten Überzeugung, an gewissen, lange vertrauten Stellen eher in Sicherheit als in Gefahr zu sein, darf der einzelne plötzlich dann nicht mehr folgen, wenn und weil ein staatliches Gesetz ihm dieses Refugium entzieht. Nicht mehr nur der gewogene Mitmensch scheidet nun infektionsmedizinisch bedingt als Quelle und Ziel möglichen Schutzes aus. Sogar das Herbeirufen eines Polizisten kann heute plötzlich unerwartete Wendungen bringen: Statt mir, wie sonst, als Freund zu helfen, schickt er mich in Quarantäne.

Wie ein kleiner Vogel sitzt der Pandemiebürger dann mutterseelenallein auf einem infektionsschutzrechtlich definierten Abschnitt seiner Hochspannungsleitung: Abstand wahrend und müde über die Landschaft blickend krallt er sich einsam in den Draht, während er im zugigen Wintersturm frierend überlegt, welche Luft er wohl gerade atmet und wie weit er noch – distanzgehorsam – zur Seite rücken darf, um dem Nachbarn seitwärts sanktionslos ein leises «Hallo?» zuzurufen.

Seuchen sind daher nicht nur medizinisch eine Heimsuchung. Seuchen sind zudem wesentlich eine Krankheit für die Seelen. Hinter dem kalt-technischen Wort vom «Ansteckungsrisiko» verbirgt sich ein ganzes Programm der radikalen Entsozialisierung. Nähe ist jetzt nicht mehr Vertrautheit, sondern Gefahr. In der Epidemie kollabieren die Schutzbereiche. In der Erscheinungsform der Pandemie raubt sie den Menschen jeden denkbaren räumlichen Zufluchtsort um den ganzen Erdkreis. In ihrer vielleicht allergiftigsten Konsequenz tötet die Seuche darüber hinaus sogar den gedanklichen Austausch zwischen Menschen. Die Bereitschaft, einander zuzuhören, um Anderes, Neues zu erfahren, erlahmt. Die Sorge, Unerhörtes zu erfahren, das den eigenen Standpunkt überdenken machen könnte, gewinnt Oberhand. Das gute Miteinander des Dialoges entgleitet in ein furchtsames, schweigendes Abwenden vom anderen. In der entzweiten Gesellschaft fürchtet der einzelne am Ende sogar, mit fremden Überlegungen angesteckt zu werden. Sogar das Miteinanderreden erstirbt.

Nach Monaten des pandemiegefangenen Nachdenkens sehe ich nur einen einzigen Ausweg aus dieser verzweifelten Lage. Mir scheint, als könne jeder Mensch dieser perplex-fatalen Mischung aus Schutzbedarf und Fluchtinstinkt nur mit einer einzigen Methode entkommen. Ich glaube, dass jedem einzelnen von Rechts wegen freigestellt sein muss, seine ganz eigene, hochindividuelle, höchstpersönliche Balance zwischen Nähe und Abstand mit anderen zu finden. Das Dilemma der furchtsamen Seelen inmitten aller körperlichen Ansteckungssorgen lässt sich keinesfalls durch zusätzlich staatliche Strafandrohungen lösen. Ein so geschaffener, weiterer Druck presst die Seelen der Fürchtenden nur noch mehr.

Wo man sich gegenseitig zuruft: «Benimm‘ Dich!», da fordert man andere auf, sich mit Seinesgleichen ins Benehmen zu setzen. Und sich ins Benehmen zu setzen heißt nichts anderes, als sich mit anderen auf einen harmonischen modus vivendi zu einigen. Das Verhältnis von Nähe und Distanz wird einvernehmlich unter den Beteiligten ausgemacht. Körperlich und gedanklich. Und in der gemeinsamen Erfahrung aus ihrem Verhalten entwickelt sich eine gesellschaftliche Übung, die keine staatlichen Strafandrohungen aus der Ferne braucht, um die Furcht aller Beteiligten zu besiegen.

«Fürchte Dich nicht!» ist dabei kein Appell zur epidemiologischen Unvernunft. «Fürchte Dich nicht!» heisst nicht infektionsmedizinische Gefahren zu verkennen. «Fürchte Dich nicht!» heisst vielmehr, selber klug und verantwortungsbewusst abzuwägen, persönlich rational zu handeln, anderen gegenüber verständig zu sein und empathisch, statt gedankenlos von Aufwühlung durchdrungen, an der Grenze zum Entsetzen vor Realitäten zu fliehen. Also: Benimm‘ Dich und beherrsche Dich selbst! Sonst wirst Du von anderen beherrscht. Sonst wirst Du bezwungen und Dir wird befohlen. Das sollte Deine Sorge sein.

[Der Text wurde erstveröffentlicht auf dem Blog der Liechtenstein Academy (www.liechtenstein-academy.com)]

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