Gluttermück und Statervolz

Carlos A. Gebauer

Als Kind führte ich ein außerordentlich behütetes Leben. In meinen ersten Jahren wachte eine Babysitterin praktisch rund um die Uhr über meine Geschicke. Später brachte sie mich zum Kindergarten und holte mich dort ab. Ein ausgeklügelter Plan sorgte dafür, daß sowohl für den Vormittag außer Haus, als auch sogleich nach meiner täglichen Rückkehr je eine nahrhafte, aber nicht allzu fette Mahlzeit zur Verfügung standen. Die vorschulischen Nachmittage verbrachte ich unter ersten Anleitungen in Lesen und Schreiben. Auch eine musikalische Früherziehung fand statt, zu der – ebenso wie dann zu Grundschule und späterem Geigenunterricht – ein Fahrdienst organisiert war. Die Chauffeurin war mir außerordentlich wohlgesonnen. Sie kannte mich bestens, hatte ein Ohr für meine Sorgen und stand mit allerlei Ratschlägen zur Verfügung. Ihre Erziehungsarbeit ging Hand in Hand mit der anschließenden Hausarbeitenkontrolle. Sie half mir, den Ranzen für den je nächsten Schultag zu packen und sie mahnte mich mit großer Aufmerksamkeit über viele Jahre zu jedem Herbstanfang, mich warm genug anzuziehen. Auch für meine Kleider gab es nämlich ein eigenes Qualitätsmanagement: Versierte Hände erwarben, pflegten und wuschen meine Garderobe, die immer passend zur jeweiligen Körpergröße auf aktuellem Stand gehalten wurde.

Im Grunde war es – alles in allem – eine glückliche Zeit. Und trotz der Engmaschigkeit all dieser sorgenden Dienstleistungen fühlte ich mich per Saldo doch nie wirklich unangenehm überwacht. Im Gegenteil. Denn ich war nie alleine, fühlte mich nie einsam, und ich hatte durchaus auch eine eigene, positive emotionale Bindung an meine jeweilige Beschützerin in allen Rollen. Ich hielt diese eigene Zuneigung auch nicht für abwegig. Denn immerhin handelte es sich bei dieser für mich hilf- und segensreich tätigen Person um meine eigene Mutter. Und die, so sagte sie, liebte mich.

Über die Jahre meines Erwachsenwerdens allerdings verschlechterte sich der gesellschaftliche Status meiner Mutter mehr und mehr. In der Terminologie meiner Lehrerinnen wurde sie zu einer „Nur-Hausfrau“. Damit schrumpfte der Rahmen ihres möglichen mitmenschlichen Ansehens Stück um Stück. In ihrem eigenen Bekanntenkreis herrschte demgegenüber ein zwar noch anderer, aber ebenfalls kritischer Ansatz zur Betrachtung ihrer Situation. Die Perspektive dort war wesentlich eine wirtschaftliche, geprägt von der Erwägung, daß meine Mutter nicht über selbstverdientes Geld verfüge, das sie nach eigener Entscheidung ausgeben könne.

Gerade dieser letztgenannte Gesichtspunkt muß aus unserer heutigen Perspektive als blanker Hohn erscheinen. Denn während die Frauen aus der Generation meiner Mutter sich tatsächlich noch zusätzliche Mittel zur eigenen Verfügung verdienten, wird den nun gezwungenermaßen ganztags berufstätigen Frauen der nächsten Generation ihr Fleiß gleich überwiegend staatlicherseits entzogen. Deren Einkünfte werden nun nämlich ebenso der Steuer- und Sozialversicherungspflicht unterworfen, wie weiland die des Mannes aus der Hausfrauenehe. Zwar hatte die Mutter meiner Patentochter Friederike sich noch im Jahre 2004 trotzig Visitenkarten mit der Namensunterzeile „Hausfrau und Mutter“ anfertigen lassen. Militärs hätten wohl von einer Art Vorwärtsverteidigug gesprochen. Dennoch war das – wie Juristen es nennen – „Regelbild der Hausfrauenehe“ mit einem alleinverdienenden Mann, der die ganze Familie ernährt, zu diesem Zeitpunkt bereits tot. Es ist so tot, daß sogar das Rechtschreibprogramm unserer Computer das Wort „Hausfrauenehe“ schon in fehlerverdächtiges Alarmrot taucht.

Damit sind aber nicht nur die Chancen auf einen attraktiven – und vor allem freiwilligen – Zuverdienst für Frauen, den sie nach eigener Entscheidung ausgeben könnten, vernichtet. Auch die Handlungsoption, das traditionelle Regelbild einer Familie zu leben, ist faktisch verbaut. Weder ein Alleinverdienermann, noch auch eine Alleinverdienerfrau sind damit heute mehr regelhaft in der Lage, einen kleinen privaten Familienbetrieb, der ausschließlich der liebenden Aufzucht und Hege eigener Kinder dient, wirtschaftlich zu realisieren. Beide Elternteile müssen abgabenpflichtig tätig sein, um ihren ganz privaten familiären Betrieb aufrechtzuerhalten.

Doch mit dieser traurigen Erkenntnis ist der gleichsam kulturelle Tiefpunkt dieser Familiensituation noch bei weitem nicht erreicht. Denn während meine eigene Mutter – als „Nur-Hausfrau“ – ganztags eigendisponiert die stets möglichst familiär sinnvollsten Erledigungsvarianten ihres täglichen Pflichtenkanons abwägen und ausführen konnte, steht die heutige Sozialstaats-Mutter noch in gänzlich anderen Entscheidungsnöten. Die Krankheit eines Kindes wird dort nämlich zur Herausforderung nicht nur für die häusliche, sondern gleich auch für die berufliche Welt. Handwerkerbesuche im Familienheim müssen mit Büroterminen koordiniert und Urlaube mit gleich zwei Arbeitgebern abgestimmt werden. Hausaufgabenbetreuung erledigt eine fremdeingekaufte Kraft ebenso, wie Chauffeur- und Babysitterdienste. All dies natürlich wiederum steuer- und sozialversicherungsabgabenpflichtig. Denn der Staat will ja an solchen Geschäften auch mitverdienen. Wo kämen wir denn hin, würden wir gar die – in großartigster Politagitation so genannten und folglich sogar dem Rechtsschreibprogramm positiv bekannten – „Hausmädchenprivilege“ oder andere sozial ungerechte Unanständigkeiten ermöglichen?

Mit alledem ersticken wir die vielfältigen Chancen auf tätige Liebe in den Familien mehr und mehr. Gardinen werden nicht mehr genäht, sondern an einem Urlaubstag gekauft und an einem weiteren geliefert. Geschenke werden nicht mehr gebastelt, sondern hektisch gekauft und professionell eingepackt. Den Kinderfahrdienst besorgt nicht mehr Mutti individuell, sondern ein tariflich bezahlter Chauffeur für ganze Kinderscharen, sonst wäre er unbezahlbar. Dessen Dienstzeiten stehen im übrigen seit Wochen fest, Verschiebungen ausgeschlossen, möglich allenfalls gegen Aufpreis, sofern arbeitszeitrechtlich überhaupt zulässig. Weil die diversen Hausaufgabenbetreuer und Kindertagesstättenmütter, die Krippenverwalter und Schulpsychologen, die Sozialarbeiter, Ernährungsphysiologen und Integrationskräftinnen (es ist nur eine Frage der Zeit, bis das Rechtschreibprogramm auch dieses Wort kennen wird…), weil alle sie auch dem Wandel und Wechsel der Zeiten unterworfen sind, kennen sie in ihren stets wechselnden Besetzungen weder ihre Betreuungskinder mit Namen, noch gar deren individuelle Sorgen und Nöte über die Jahre ihrer Entwicklung. Die einstmals in höchstem Maße personalen und individuellen Beziehungen zwischen Vätern, Müttern und Kindern funktionalisieren sich in fragmentierte Rollenzusammenhänge. Das Prinzip der Prostitution wird verallgemeinert und auf alle menschlichen Lebensbereiche erstreckt. Kummer und Kümmern werden ersetzt durch zertifiziertes Qualitätsmanagement. Die Chancen, einen anderen über Jahre und Jahrzehnte als ganzheitliche Person zu kennen, zu verstehen und zu lieben, verflüchtigen sich ebenso wie die Erkenntnis, daß „lieben“ ein Verb und nicht ein Adjektiv ist. Statt an einer geliebten Person zu verzweifeln, unter ihrem Verhalten zu leiden, und dann zuletzt doch wieder den Zugang zu ihr zu finden, werden im sozialstaatlichen Familienbild einzelne Dienstleister schlicht ausgetauscht und Verträge – unter selbstverständlich stets strenger Beachtung kündigungsschutzgesetzlicher Restriktionen – beendet. Hier wird nicht mehr gefragt, erwogen und vereinbart, wie das Verhalten der einzelnen Familienmitglieder gruppendienlich sein könnte. Hier werden stattdessen schlicht gesetzliche Regeln des Miteinanders kalt vollstreckt. Und jedes liebevolle Tun für den anderen ragt plötzlich in den Bereich des steuerrelevanten Handelns.

Mit der Rolle der Nur-Hausfrau und des Nur-Hausmannes haben wir aber nicht nur das Prinzip der innerfamiliären Arbeitsteilung beerdigt. Wir haben zugleich die ökonomische Effektivität dieses Lebensentwurfes getötet. Denn wir haben jeden innerfamiliären Dienst zum Gegenstand einer finanzwirtschaftlichen Transaktion gemacht. Damit haben wir den möglichen Umfang dieser Dienste unabsehbar eingeschränkt. Müssen wir uns nach alledem also noch über vereinsamte und orientierungslose, über haltlose und auffällige Kinder wundern? Kann noch erstaunen, daß immer weniger Liebe waltet zwischen den Menschen? Hat nicht dieses sozialstaatliche Familienbild jetzt erst wahrhaft genau das herbeigeführt, was seine Protagonisten immer so gerne geißeln: Die Ökonomisierung der Lebensverhältnisse? Wie verblendet muß man sein, um dies zu übersehen?

Vor mehr als zwanzig Jahren hatte jemand in Düsseldorf auf einen Stromkasten geschrieben: „Welch’ schönes Wort ist Mutterglück – wie hässlich wäre Gluttermück!“. Heute sehen wir nicht nur Gluttermück, sondern gleich auch noch Statervolz dazu. Die Dinge haben sich, scheinbar politisch ganz korrekt, geändert. Doch für unsere Herzen sind diese Verhältnisse ganz inkorrekt. Lieblos.

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