Onkologische Fastnacht – Verdi bringt Tumordruck auf die Straße

von Carlos A. Gebauer Sie haben ein Krebsgeschwür? Es muß operiert werden? Die Schmerzen sind hoffentlich nicht zu heftig? Denn an Karneval kann dieses Jahr leider nicht operiert werden. Unsere Onkologie hat nämlich – Helau! – geschlossen. Karnevalsbedingt. Oder genauer gesagt: Nicht wirklich karnevals-, sondern gewerkschaftlich bedingt. Die Solidarität zwingt zu dieser Maßnahme. Und das kommt so: Das Personal unserer Krankenhäuser arbeitet schon heute für vergleichsweise geringes Entgelt. Alleine der persönliche Antrieb, den Schwächsten Hilfe zu leisten, hält viele Mitarbeiter noch an ihren Arbeitsplätzen. Gegen diesen mißlichen Umstand erhebt sich nun zunehmend Protest. Und – wie kann es anders sein – wo kollektives Unbehagen wächst, da sind die gewerbsmäßigen Wortführer im trillerpfeifenden Plastikfrack nicht fern. Aus ihren imposanten Zentralen eilen sie wortgewandt herbei, um zur Maximierung des eigenen Profites lautstark die Stimme zu erheben. Den Schwestern und Pflegern müsse beigestanden werden, sagen sie. Und wie üblich ist ihre Medizin gegen jedwede Form der gesellschaftlichen Erkrankung auch hier: Der Streik! Nun aber kollidieren in diesem besonderen Falle zwei äußerst gegenläufige Solidaritätspflichten der Krankenhausmitarbeiter gegeneinander. Die eine Pflicht ruft zur Hilfe gegen den Schmerz. Die andere fordert – von den Protestexperten der Gewerkschaftszentralen pfiffig formuliert – den tariflichen Kampf gegen täglich 18 Minuten Mehrarbeit. Würde jeder Angestellte einer Onkologie künftig Tag für Tag diese 18 zusätzlichen Minuten ableisten, entfiele für einen möglichen Bewerber auf den Job vielleicht die Chance, dort ebenfalls die Arbeit tätiger Nächstenliebe zu entfalten. Das, sagen die stets versierten nationalökonomischen Umverteilungsexperten der Gewerkschaft, gilt es zu verhindern. Offenkundig aber leiden die tariflichen Vertreter der Arbeitgeberseite derzeit nicht persönlich an einer schmerzhaften Krebserkrankung. Also müssen zwangsläufig die tatsächlich Leidenden – sozusagen in einem solidarischen Akt eigener Art – ihren Ärzten und Krankenpflegern kurzfristig unter die weißen Arme greifen, um zur Verwirklichung des listigen Gewerkschaftsplanes effektiven Verhandlungsdruck auszuüben. So kann der Tumorschmerz des Bettlägerigen mit seinen entgleisten Blutwerten zum ungekannt effektiven Druckmittel im Verteilungkampf um steigende Entlohnungen werden. Die Begeisterung über die Effektivität eines Kampfmittels trübt allerdings zuweilen den Blick für die Angemessenheit seines Einsatzes. Dies verbindet kriegerische Auseinandersetzungen im Allgemeinen mit tariflichen im Besonderen: Plötzlich fragt niemand mehr, wogegen eigentlich gekämpft wird, weil der einmal aufgenommene Streik so erfreulich eigendynamisch an Fahrt gewinnt. Niemand will noch wissen: Ist eigentlich nur die zu geringe Entlohnung unseres Krankenhauspersonals das Problem, das es zu lösen gilt? Oder stellen sich uns noch ganz andere Fragen im überbürokratisierten Hospital? Im damit inszenierten Gewissenskonflikt zwischen DGB und EKG werden sich manche gewerkschaftlich organisierte Pflegekräfte zunächst noch unwohl gefühlt haben. Denn das Grundverständnis vom Sinn der eigenen Arbeit war ja ursprünglich ein Tätigwerden gegen das konkrete Leiden des Nächsten. Die Instrumentalisierung des Schmerzes zur Druckerzeugung auf Arbeitgeber im persönlichen Profitinteresse war der Vorstellung deutschen Krankenhauspflegepersonals bislang eher fremd. Doch die professionellen Tarifkampfexperten wissen Trost: Die Geschichte, sagen sie, habe oft gezeigt, wie segensreich es sei, kleine Nahziele zugunsten großer Fernziele aus dem Blick zu nehmen. Was also ist – „in the long run“ – ein kleiner Fieberschock des Nichtoperierten im Vergleich zum Glück eines Kindes, dem sein Papi jeden Tag schon um 21.42 Uhr, statt erst um 22.00 Uhr gehört? Das volkspädagogische Vermitteln ethischer Grundabwägungen war stets eine Kernaufgabe aller gewissenhaften Arbeitnehmerführer. Während des Streikes sollte demnach für alle Operationssäle gelten: „Wolle mer se reilasse?“ – „Nö!“ Und ergänzend wird an die Adresse der noch zweifelnden Streikenden entlastend erklärt: Ein Notdienst sorgt für die „wirklich Kranken“, vorausgesetzt, sie befinden sich – no risk, no fun – in echter Lebensgefahr. So hätte also der Rosenmontag des Jahres 2006 streikbedingt zum intensivstationären Arbeitskleiderschontag werden können. Doch er wurde es nicht. Denn rechtzeitig zur Altweiberfastnacht setzten die hochmotivierten Verdi-Kämpfer das Schlachtgeschehen plötzlich aus. In einem beispiellosen Akt unternehmerischer Verantwortung gegenüber den eigenen Streikkassen wurde der Arbeitskampf über die betrieblich seit jeher eingeübten Karnevals-Urlaubstage ausgesetzt. Die Streikpostinnen wechselten ihr tütenbuntes Verdi-Gewand in das Kostüm des Funken-Mariechens und tauschten die Trillerpfeife gegen ein grelles Plastik-Posäunchen – wir schunkeln uns durch die Friedenspflicht und der Streik wird nicht allzu wild. So konnte der karge Arbeitslohn vorübergehend wieder ebenso verläßlich aus den üblichen Arbeitgeberkassen fließen, wie das Blut aus den nicht gewickelten Wunden eines Multimorbiden. Wehe also dem, der kein Notfall im Sinne der streiktaktischen Spielregel einer „wirklichen Krankheit“ ist. Oder der es nicht sagen kann. Wen aber könnte ernsthaft beruhigen, daß aus jedem Schwerkranken automatisch ein Notfall wird, wenn man ihn nur lange genug sich selbst überläßt? Die heroische List der flächenparitätischen Bedingungsaushändler, den Ausnahmezustand des Arbeitskampfes während der närrischen Ausnahmetage gegenausnehmend auszusetzen, um ihn anschließend konfliktstrategisch optimiert wieder nahtlos fortzusetzen, schont aber nicht nur die gewerkschaftlichen Rücklagen. Indem die beurlaubten Streikposten es ihrem Fleische nämlich – carnem vale! – gutergehen lassen können, ohne – carnem lavere – das kranke Fleisch der bestreikten Leidenden waschen zu müssen, erhöht sich zugleich ausnahmslos der Druck auf die Verhandlungspartner, die materiellen Verhältnisse zwischen steuerzahlenden Kranken und öffentlich Bediensteten weiter – streikseidank – in Richtung Verdi zu verschieben. Wer die also unterschätzt, der muß seine Geschwulst künftig selber entsorgen. Und diese Botschaft ist in einem Maße deutlich, daß niemand mehr wage zu fragen, ob es denn überhaupt die zur Mißstandsbeseitigung richtige sei. Mehr noch: Wenn der Vorsitzende des Bundesverbandes der Universitätsklinika mit den Worten zitiert wird, es sei „ethisch bedenklich“, Schwerkranke streikbedingt nicht zu behandeln, so weht nicht nur der Hauch des Todes durch die Krankenzimmer. Die offenkundige Furcht, Mord und Totschlag offen Mord und Totschlag nennen zu wollen, weht auch den Hauch der Rechtlosigkeit über dieses bemerkenswerte Amalgam aus Macht, Arbeit und Gesundheit. Ob Du also leidest oder nicht, ob Du lebst oder nicht, das entscheidet die Gewerkschaft, nicht Dein Arzt. So zügellos ist eben die traditionelle Umwertung aller Werte im Karneval, sonst würde es auch kaum Spaß bereiten: Der König des Volkes bestimmt die Richtung. Und wer unter dem Aschekreuz beerdigt werden muß, weil ihm medizinische Hilfe während der onkologischen Fastnacht nicht angedieh, der konnte wenigstens in der Illusion sterben, sein Leben für einen guten Zweck zu geben. Denn der solidarische Kampf gegen das So-Sein der vorgefundenen Welt und für die materiell verbesserte Freiheit aller Werktätigen darf vor den Toren unserer Hospitäler keinen Halt machen. Wir haben schließlich nicht zuletzt von der Arbeiterbewegung gelernt: Gesundheit ist keine Ware wie jede andere! Die Besinnlichkeit des Fastens nach dem Fasching muß allerdings verhindert werden. Je imposanter der Streik und je greller die Farben, desto geringer bleibt die Gefahr, daß die breite Mehrheit in sich geht und nach den tatsächlichen Ursachen der Probleme fragt. Marschrichtung und Rhythmus müssen volkswirtschaftlich zentral gesteuert und politisch beherrscht vorgegeben werden. Die gewerkschaftliche Geschichtsschreibung soll möglichst auch vor dem enthemmten Volke noch so planvoll voranschreiten wie ein richtungsweisender Tamborin-Major dem Spielmannszug. Zuletzt bleibt die böseste aller Einsichten: Die führenden Protest-Profis von Verdi reisen zurück in ihre Zentralen. Aus der Krankenschwester haben sie einen Streikposten im Plastikrock, eine das Rathaus erstürmende Möhne und zuletzt wieder eine Soldatin im Arbeitskampf gemacht. Tapfer und mit bester Überzeugung hat die Schwester ein Gewand nach dem anderen getragen, im guten Vertrauen auf ihre Vertreter und darauf, selbst das Gute und Richtige zu tun. Im Ergebnis aber ist nur ihre Arbeit liegen geblieben, haben Kranke gelitten, wird sie beschimpft von der Öffentlichkeit und steigt ihr Lohn zuletzt doch nicht, weil die Gesellschaft – und folglich auch die arbeitgebende öffentlichen Hand – schlicht pleite sind. Verdi also hat unbarmherzig Flagge gezeigt und ist unverrichteter Dinge aus dem nach wie vor überverwalteten Krankenhaus abgereist. Verlierer sind das verkaterte Krankenhauspersonal und die todgeweihten Patienten. Schade. Aber: Tumor ist, wenn man trotzdem lacht. Helau! „Wer einen Menschen rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt und dadurch dem Vermögen des Genötigten oder eines anderen Nachteil zufügt, um sich oder einen Dritten zu Unrecht zu bereichern, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. … Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn der Täter gewerbsmäßig oder als Mitglied einer Bande handelt, die sich zur fortgesetzten Begehung einer Erpressung verbunden hat.“ (§ 253 Abs. 1, 4 Strafgesetzbuch)
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