Philosophen in Parteizentralen

von Carlos A. Gebauer

Ich liebe es! Hubertus Heil, derzeitiger SPD-Generalsekretär, äußert sich meinungsstark zu Fragen von Freiheit und Unfreiheit. Seit über zweihundert Jahren diskutieren Sozialisten mit Philosophen darüber, was denn nun wahre Freiheit eigentlich sei. Freiheit „von etwas“ oder Freiheit „für etwas“? Und seit zweihundert Jahren verstehen Sozialisten nicht, daß jeder Versuch, die materiellen Grundlagen für eine „positive Freiheit“ staatlicherseits zu schaffen, schon nach sauberer, rein theoretischer Deduktion ein absehbares Ende in allgemeiner Knechtschaft finden muß. Wie sonst wäre zu erklären, daß schon Friedrich Nietzsche lange vor Sowjetstaat, Roten Khmer und DDR wußte: „Der Sozialismus ist der phantastische jüngere Bruder des Despotismus, den er beerben will. … Er begehrt eine Fülle der Staatsgewalt, wie sie nur je der Despotismus gehabt hat, ja er überbietet alles Vergangene dadurch, daß er die förmliche Vernichtung des Individuums anstrebt … welches … durch ihn in ein zweckmäßiges Organ des Gemeinwesens umgebessert werden soll.“

Doch auch derart offen zutage liegende Erkenntnisse scheren Sozialphilosohen vom Schlage eines Umverteilungsfreundes nicht. Im Gegenteil. Nach all dieser Zeit – und zudem weltweit hinlänglich vorliegender, kulturübergreifender Empirie – sollte die scientific community dieser Welt (und eigentlich auch die community der Sozialisten) insgesamt verstanden haben, daß der Versuch, den einen zu knechten, um die Freiheit des anderen zu erreichen, stets und überall unausweichlich zum Scheitern verurteilt ist. Ungeachtet aller Theorie und Empirie wird indes munter weiter darauflosphilosophiert, immer mit dem zuckersüßen Versprechen, am Ende werde es schon allen sicher sozial besser gehen.

In Anbetracht der Länge und des Umfanges dieser Debatten kann mithin kaum erstaunen, daß ausgerechnet diejenigen sich in scheinbar elfengleicher Leichtigkeit und Kompetenz in den Diskurs einbringen, denen es am erforderlichen Rüstzeug zur Teilnahme an der Diskussion gänzlich gebricht. Denn wer, muß man fragen, ist nun wieder Hubertus Heil, der sich gleich an exponiertester Stelle – nämlich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung – auf dieses weidlich abgegraste Terrain wagt, offenbar in der Annahme, dort vielleicht doch noch ein unentdecktes grünes Hälmchen sozialistischer Freiheitsphilosophie zu entdecken?

Hubertus Heil ist nicht Philosoph. Er ist auch nicht examinierter Politologe oder Jurist. Er ist Generalsekretär der SPD. Immerhin. Aber das alleine macht ihn mutig, den Freiheitsdiskurs zu wagen? Mit welchem Ergebnis? Einem jämmerlichen, wer hätte es gedacht. Der Dreiunddreißigjährige, der bislang nicht Gelegenheit gefunden hat, sein 1995 begonnenes Studium zu beenden, trat schon im Alter von 16 Jahren in seine Partei ein. So etwas prägt unausweichlich. Auch philosophisch. Wie formulierte jüngst der Soziobiologe, Edward O. Wilson, nach vierzigjähriger Lehrtätigkeit in Harvard interdisziplinär wissenschaftstheoretisch bestens beschlagen: „Sozialwissenschaftler haben sich zu Kadern gruppiert, die zwar alle betonen, wie wichtig terminologische Präzision … sei, aber nur selten fachübergreifend dieselbe Sprache sprechen. … Sozialwissenschaftler neigen zu Stammesloyalität.“ Besonders offenbar, mag man ergänzen, wenn sie schon seit Kindesbeinen einem bestimmten Parteistamm angehören.

Wäre es, möchte man hoffnungsfroh spekulieren, zu dem identischen Lapsus des Generals auch dann gekommen, wenn er die (auch für Studienanfänger leicht faßlichen) Gedanken etwa Eugen Richters gekostet hätte, die allen Irrglauben über staatsplanerisch eingreifende Freiheitsverbesserungen schon vor mehr als hundert Jahren mit den eingängigen Worten intellektuell auszumerzen geeignet waren: „Die Gegner werfen dem Prinzip der Freiheit vor, daß es die Förderung der Selbstsucht bezwecke. Gerade umgekehrt! In der Freiheit findet die Selbstsucht eine Schranke in der Selbstsucht des anderen. Derjenige, der möglichst teuer verkaufen will, findet ein Hindernis in den Bestrebungen derjenigen, die möglichst vorteilhaft kaufen wollen. Wird dem einen wie dem anderen die Freiheit gelassen, so müssen beide ihre Selbstsucht dem gemeinsamen Interesse unterordnen. Wenn aber jemand behindert wird, so wird gerade die Selbstsucht des einen auf Kosten des anderen unterstützt und statt der Gerechtigkeit ein System der Ungerechtigkeit begünstigt.“ Zugleich – möchte man aus heutiger Sicht anfügen – ist mit einem solchen System der zivilrechtlich selbststeuernden Freiheitsregulierung ein für die öffentliche Hand äußerst kostengünstiger Kontrollmechanismus geschaffen; denn er funktioniert ohne jede Umverteilungsbürokratie. Doch: Wie kann man das wissen, wenn man es nicht einmal in der Ruhe eines sorgsam beendeten Hochschulstudiums durchdacht hat?

Immer wieder drängt sich der Vergleich mit anderen als gesellschaftsphilosophischen Disziplinen auf, in denen das Unsinnige des unqualifizierten Beitrages jedem sogleich einleuchtet: Wie wohl reagierte etwa die scientific community der – beispielsweise – Chirurgen, wenn ein abgebrochener Medizinstudent unter leidlicher Berufung auf seine Qualifikation als – sagen wir – Kassenwart eines altehrwürdigen Segelvereines einen fachlich ebenso ungelenken Beitrag zur externen Fixierung multipler Luxations- und Kompressionsfrakturen im Schädel-Hirn-Bereich veröffentlicht hätte? Man mag es sich nicht vorstellen. Am wenigsten aber mag man unter diesen Erkenntnissen einen Schädelbruch erleiden.

Anders, wenn die hehre Politik, bei der Jeder mitsprechen kann, in Rede steht. Dann ist – ganz konkret und äußerst durchsetzungsstark – zu fürchten, daß diese Gedankenwelten eines „Vordenkers“ (in etwa definiert als eines Denkers aus den Zeiten cirka 100 Jahre vor Erfindung des Automobils, als Eigentum plötzlich Diebstahl zu werden beliebte) irgendwann ganz praktisch Politik und anschließend Gesetz werden. Man mag es sich nicht vorstellen. Am wenigsten aber mag man unter solcherlei Kryptophilosophien Staatsbürger sein.

Doch, es kommt noch besser! Denn ein H. Heil kommt selten allein. Hubertus Heil, der Philosoph in der Parteizentrale, veröffentlicht soeben ein neues Standardwerk zur „Neuen Gerechtigkeitspolitik“, mit der er alle Politkbereiche miteinander „verzahnen“ möchte, damit anschließend das Leitbild einer – so wörtlich – „inklusiven Politik“ entstehe. Vielleicht hat Herr stud. rer. pol. Heil bislang an der Potsdamer Hochschule (an der er offenbar noch inskribiert ist) seinen kleinen lateinischen Terminologieschein noch nicht erworben. Sonst liefe ihm auf dem Potsdamer Campus – und also im Gebiete der ehemaligen DDR – doch sicher ein leiser Schauer über den Rücken über eine „einschließende Politik“?

Wir werden folglich nicht umhin kommen, uns auch noch mit den jüngsten philosophischen Abirrungen dieses neuen Sterns am Sozialistenhimmel auseinanderzusetzen. Denn wenn einer wie Heil zusammen mit – horribile dictu – Karl Lauterbach über „präventive Sozialpolitik“ schreibt, dann sollte man als Leser mindestens ebenso präventiv gewappnet sein und wissen, was die sozialistische Avantgarde der eigenen Nation derzeit denkt. Als Deutscher hat man ja inzwischen traditionell die Pflicht, die weltanschaulichen Werke seiner Politiker zu lesen. Bestenfalls rechtzeitig. Sozusagen vor der terminalen Inklusion.

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