Das Wartezimmer als Strafgericht

Ein Erlebnisbericht

Ärztliche Wartezimmer haben ihre ganz eigene Atmosphäre. Patienten sitzen schweigend auf ihren Stühlen. Der eine blättert in einem Magazin, der andere bohrt mit Blicken Löcher in den Boden. Allenfalls die Hektik um das Empfangspult erinnert daran, daß Menschen auch miteinander reden können.

Kürzlich hatte ich wieder einmal Gelegenheit, diese besondere Lage vor Ort in der Arztpraxis zu erspüren. Ein Kassenarzt hatte mich zu einem Termin gebeten. Weil er gerade schwer beschäftigt sei, schob seine Helferin mich in sein Wartezimmer: „Herr Doktor kommt gleich!“.

Ich murmelte – wie man das so macht – halblaut einen unklaren Gruß in die versammelte Gruppe und setzte mich auf den letzten freien Platz. Von den ausgelegten Society-Magazinen schien mir keines interessant. Statt dessen las ich in meiner Akte, um die Besprechung mit dem Herrn Doktor schon einmal weiter vorzubereiten.

Nach einigen Minuten bemerkte ich, daß die ältere Dame von schräg gegenüber wiederholt zu mir herübersah. Ich schaute möglichst freundlich zurück. Unsere Blicke trafen sich zweimal, dreimal, viermal. Dann plötzlich lächelte sie mich breit an und sagte: „Ich kenne Sie aus dem Fernsehen. Sie sind Rechtsanwalt.“

Ihr Mann, sagte sie, sei Staatsanwalt gewesen und vor zwei Jahren verstorben. Er habe ihr zwar immer gesagt, Gerichtssendungen im Fernsehen hätten mit der Wirklichkeit nur wenig gemein. Trotzdem sei sie gerade in den letzten zwei Jahren immer wieder auch bei derartigen Sendungen beim Herumschalten hängengeblieben. Daher kenne sie mein Gesicht.

Inzwischen waren zwei Patienten aus dem Zimmer gerufen worden. Ein junger Mann hatte sichtlich Spaß, unserer Unterhaltung zu folgen. Ein anderer Herr tat konsequent so, als sitze er mutterseelenallein im Raum. Nur das Rascheln seiner umgeschlagenen Zeitungsblätter signalisierte, daß er noch da war.

Nach einer kurzen Pause hob meine Gesprächspartnerin erneut an: „Darf ich Sie mal etwas fragen?“ Ich beugte mich zu ihr herüber: „Haben Sie doch schon“. Nein, ganz im Ernst, es treibe sie ein Gedanke um und sie wolle die Gelegenheit nutzen, mich einmal nach meiner juristischen Meinung zu fragen. „Bitte, nur zu!“ ermutigte ich sie.

„Irgendwas mit unserer Gesundheitsversorgung ist doch nicht in Ordnung“ leitete sie ihre Frage ein. „Unser Sohn hat eine ordentliche Stelle bei einer Computer-Firma und zahlt jeden Monat kräftig Beiträge an seine Kasse. Trotzdem gibt es immer weniger Ärzte in seinem Ort. Die, die noch da sind, haben immer kürzer geöffnet. Und wenn er pünktlich zu seinem Arzt kommt, muß er trotzdem lange warten. So wie wir jetzt hier. Haben Sie dafür eine Erklärung?“

„Nun,“ sagte ich, „es gibt Leute, die sagen, die Privatpatienten schnappen allen anderen die guten Termine weg.“ Da verdunkelten sich die Züge der Dame plötzlich sehr: „Das ist eine Unverschämtheit. Ich bin auch privat versichert. So wie es mein Mann war, als Beamter. Sitze ich woanders? Ich warte hier genau wie alle anderen auch. Und ich bezahle meine Versicherung. Wie alle anderen. Daran kann es also nicht liegen.“

Erstaunlich, dachte ich, wie schnell aus einer freundlichen älteren Dame eine so wütende und kämpferische Bürgerin werden kann. „Die Dinge sind sehr kompliziert“, gab ich zu bedenken, „und Sie wollen hier jetzt sicher keinen Vortrag über Planwirtschaft im Gesundheitswesen hören?“ Das sei ja Unsinn, schimpfte sie, „aber warum muß mein Sohn für Leistungen seiner Kasse Beiträge bezahlen, die er gar nicht haben will?“ Er habe mit seinem Chef gesprochen. Der hat keine Möglichkeit, die Kassenbeiträge an ihn auszuzahlen. Und ihr Mann, der Staatsanwalt, habe ihr das zu seinen Lebzeiten noch bestätigt: „Wenn der die Beiträge nicht an die Kasse abführt, dann kommt er sogar ins Gefängnis!“.

Inzwischen war der junge Mann zu dem Herrn Doktor gerufen worden und der andere Herr hatte seine Zeitung beiseite gelegt. Offenbar hörte er nun unserer Unterhaltung nicht nur zu. Er warf jetzt sogar etwas ein: „Ulla Schmidt ist das alles Schuld. Früher hat es doch funktioniert.“ Bevor ich fragen konnte, ob er dies wirklich glaube, stand die Witwe des Staatsanwaltes auf, blickte aus dem Fenster und sagte: „Mein Mann hat mal gesagt, eigentlich müßte man Frau Schmidt vor ein Strafgericht stellen. Wer den Bürgern nämlich zwangsweise Kassenbeiträge abnimmt, ohne ihnen dafür wirklich die beste Medizin zu verschaffen, der wäre doch fast schon ein räuberischer Erpresser. Und jedes Mal, wenn es weh tut, weil die Medizin nicht zur Verfügung steht, müßte man auch an eine Bestrafung wegen Körperverletzung denken. Aber das hat er – glaube ich – nicht ganz ernst gemeint. Er war ja zuletzt auch schon sehr krank.“

„Was halten sie denn davon, Sie Fernsehanwalt?“ fragte mich plötzlich eine Frau, die ich in ihrer Ecke bis dahin noch gar nicht wahrgenommen hatte. „Nun“ versuchte ich zu erklären, „Politiker machen sich nicht strafbar, weil sie politische Verantwortung tragen, nicht juristische. Deswegen ist es ganz abwegig, sie in die Nähe von Räubern, Erpressern oder Körperverletzern zu stellen. Sie machen einfach nur ihren Job.“ Das sei doch wieder eine typische juristische Haarspalterei, wetterte der augenscheinlich erwachte Herr mit der Zeitung. „Immer wenn es brenzlig wird, lasst Ihr Juristen uns im Stich! Haben wir nun einen Rechtsstaat oder nicht?“. Und meine ältere Freundin mochte mich plötzlich auch nicht mehr: „Mein Mann war nicht abwegig. Er war ein Prädikatsjurist“.

Zu meinem großen Glück ging in diesem Moment die Tür auf. Die Helferin des Arztes trat ein und entschuldigte ihn: Er sei völlig überlastet. Wir müssten uns ein andermal treffen. Ich möge es verzeihen. Und die Frau Staatsanwaltswitwe möge nun bitte zu Herrn Doktor kommen. Ich murmelte ein halbverständliches „Auf Wiedersehen“ und ging. Manche Dinge sind einfach wirklich schwierig zu erklären.

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