Konsens und Dissens im deutschen Gesundheitssystem

Carlos A. Gebauer

Das Britische Gesundheitsministerium hat vor einigen Jahren verboten, Leichen öffentlich zu sezieren, weil dies gegen die guten Sitten verstoße. Insofern ist vielleicht nicht unproblematisch, unser sozialgesetzliches Gesundheitssystem öffentlich zu untersuchen. Professor Sauerbruch, in dessen Hörsaal wir hier sitzen, wird es uns jedenfalls verzeihen. Doch, zur Sache:

1.) Es gibt augenscheinlich nur einen einzigen Punkt im gesamten deutschen Gesundheitssystem, über den nicht gestritten wird: Nämlich den Umstand, daß alles andere umstritten ist. Folglich drängt sich die Frage auf, warum eigentlich alles im System derart in Streit steht.

Während das System insgesamt auf den Namen „Gesundheitswesen“ hört, strebt das Sozialgesetzbuch mit seiner einleitenden Legalprämisse in §1 I 1 SGB I bekanntlich noch mehr an. Angezielt wird – wortwörtlich übereinstimmend übrigens mit der Präambel der DDR-Verfassung von 1949 – die Herstellung „sozialer Gerechtigkeit“. Es geht also um mehr, als nur um die Gesundheit. Es geht um das Allgemeinwohl. Warum also wird darüber gestritten?

2.) Ein gezielter Blick in das System erweist Erstaunliches. Fragt man nämlich nach Konsens und Dissens im Gesundheitswesen, dann stellt man fest: Das Gesetz ist praktisch ununterbrochen überall damit befasst, daß der Wille einzelner Personen oder Personengesamtheiten von anderen Personen oder Personengesamtheiten gebrochen wird. Beständig erklärt eine Instanz oder Institution einer anderen Stelle oder Einrichtung, was genau diese zu tun oder zu lassen habe, damit im Ergebnis das Wohl der Allgemeinheit – endlich – erreicht werde.

a.) Patienten werden nicht nach ihrem Willen gefragt, ob sie sich gegen das Risiko einer Krankheit versichern möchten. Ihr dahingehender Wille wird gesetzlich gebrochen, es herrscht Versicherungszwang. Patienten werden auch nicht danach gefragt, ob sie sich „gesetzlich versichern“ möchten. Es wird ihnen vorgeschrieben. Folgerichtig spielt auch der Wille des Patienten kaum eine Rolle, wenn es um die Frage nach dem inhaltlichen „Wie“ seines Schutzes geht. Auch diese Willensbildung ist unbeachtlich. An der Stelle des Patienten entscheiden Krankenkassen, Medizinische Dienste, ungezählte Ausschüsse und – natürlich – zuletzt die Politik.

b.) Doch auch der Wille von Ärzten oder Zahnärzten, wie sie am besten zu behandeln glauben, wird gebrochen. Mit sagenhaftem bürokratischem Aufwand wird ihnen von Kassenärztlichen Vereinigungen, Medizinischen Diensten, Gemeinsamem Bundesausschuß etc. pp. vorgeschrieben, was sie in ihrer Arbeit richtigerweise zu wollen haben. Das, was einstmals als Therapiefreiheit proklamiert wurde, verliert sich in homöopathisierender Vermengung und Vermischung mit Administration und Kontrolle.

c.) Auch die Willensbildung der Krankenhäuser und ihrer Ärzte spielen im Kontext dieses Gesundheitssystems folgerichtig keine wesentliche Rolle. Den Krankenhausärzten, dem Pflegepersonal und den Verwaltungen der Häuser werden – nicht anders als im Bereich der niedergelassenen Ärzte nebst all ihren inzwischen zulässigen Mischformen – dezidierteste Befehle erteilt, was sie zum Wohle der Volksgesundheit wollen dürfen.

d.) Die scheinbar noch übermächtigen Kassenärztlichen Vereinigungen selbst sind ebenfalls nicht in der Lage, einen eigenen Willen in ihrem Handeln zu entwickeln und diesen konsequent durchzusetzen. Auch ihnen wird mehr und mehr der fremde Wille von Krankenkassen durch politisch formulierte und motivierte Gesetze aufgezwungen. Ihr paradoxer gesetzlicher Handlungsauftrag („Vertrete die Ärzte und vertrete sie nicht!“) verwebt sie beständig in einen immer dichteren Kokon, aus dem es für sie nie mehr ein Entrinnen gibt.

e.) Des weiteren finden sich aber auch die ansonsten durchaus kompetenzgestärkten Krankenkassen in ihren Willensdurchsetzungen einerseits an Kassenärztlichen Vereinigungen, in Einzelfällen durch den MDK, durch den Gemeinsamen Bundesausschuß oder durch hinderliche Interessen von Krankenhäusern und/oder Krankenhausgesellschaften gestört. Andererseits räumt ihnen eine Politik mit Gesundheitsfonds und anderem zwangsverwaltungstechnischen Knebelinstrumentarium wie dem des RSA praktisch keine Chance ein, ökonomisch und medizinisch Gedeihliches miteinander zu verheiraten.

f.) Schließlich wird selbst die Politik nicht müde, auf jene Schwierigkeiten zu deuten, die ihr mit der sogenannten „Selbstverwaltung“ im System begegneten. Hier redet sie von Lobbyismus und betonierten Widerstandsstrukturen, die ihr eine fruchtbringende Formulierung endlich paradiesisch sozial gerechter Gesetze verunmöglichten. War es nicht noch immer entlastend, wenn der andere Schuld am eigenen Versagen trägt?

3.) In Ansehung dieser allgegenwärtigen Willensbrechungen muß demnach legitim sein, von unserem gesetzlichen Gesundheitssystem als von einer Dissens-Struktur zu reden. Mit anderen Worten: Alle „player“ dieses Lebensbereiches bilden im Ergebnis nichts anderes als eine Dissensgesellschaft, in der Streit die Regel und Konsens die Ausnahme sind. Nicht also die Bildung und Formulierung friedlicher, friedvoller und befriedender Willensübereinstimmung, sondern das Aufeinandertreffen und –prallen mehr oder minder machtvoller Willensgegensätze kennzeichnen dieses System in seinem Kern.

Demnach wird man die weitere Frage stellen müssen, warum die jeweilige Willensbildung eines jeden einzelnen „players“ in diesem Kontext für unbeachtlich erklärt wird. Und man wird fragen müssen, ob diese strukturell allgegenwärtige Willensbrechung sich überhaupt noch in den Gesamtzusammenhang unserer heutigen Gesellschaftsordnung fügt.

4.) Vor der Beantwortung dieser weiteren Fragen ist jedoch – gleichsam vorsorglich, zur Beseitigung eines verbreiteten terminologischen und inhaltlichen Irrtumes – noch dies einzuschieben: Nicht selten begegnet man der Auffassung, alle hier als „player“ bezeichneten Institutionen stünden zueinander und miteinander im Verhältnis des „Vertrages“. Denn schließlich würden doch z.B. die Spitzenverbände der einschlägigen Instanzen miteinander „Verträge“ schließen. Und auch die vormals als „Kassenärzte“ bezeichneten player seien inzwischen längst Vertragsärzte.

An dieser Stelle darf man sich nicht von der unzutreffenden Terminologie in den inhaltlichen Irrtum locken lassen. Denn die juristische Dogmatik hat über Jahrhunderte dies erarbeitet: Verträge – und insbesondere Vertragsfreiheit – erfordern zweierlei: Abschlussfreiheit und Gestaltungsfreiheit. Das heißt: Die Vertragsparteien müssen jeweils einvernehmlich darüber entscheiden können (a.) ob sie überhaupt miteinander einen Vertrag abschließen wollen und (b.) welchen Inhalt sie ihrer vertraglichen Absprache geben möchten. Werden aber – wie typischerweise im deutschen Gesundheitssystem – bestimmte Institutionen zum Vertragsabschluß mangels ernstlicher Alternative(n) gesetzlich gezwungen und werden ihnen überdies auch noch gesetzlich Vorgaben dazu gemacht, wie sie sich inhaltlich zu „einigen“ haben, dann haben wir es weder mit wirklichen Verträgen, noch auch mit wirklichen Vertragspartnern zu tun. Statt dessen ist lediglich die Aufgabe der Koordination bestimmter gesetzlicher Handlungspflichten in den Bereich der mittelbaren Staatsverwaltung ausgelagert. Das erklärt, warum der „Vertragsarzt“ kein Vertragsarzt ist: Er schließt weder Verträge mit seinen Patienten, noch gar mit seiner KV, die per Verwaltungsakten mit ihm kommuniziert. Kurz: Im gesetzlichen Gesundheitssystem Deutschlands „verträgt“ man sich nicht miteinander, sondern – wie eingangs beschrieben – man streitet in der Dissensgesellschaft.

5.) Dies führt nun zu der schon aufgeworfenen Frage: Wie kann es sein, daß der Wille einzelner (ebenso wie der innerhalb bestimmter Institutionen gemeinschaftlich gebildete Wille) stets von anderen playern gebrochen werden darf?

Schließlich anerkennen wir doch insbesondere im medizinischen Kontext, daß z.B. der Wille des Patienten, ob ein ärztlicher Eingriff vorgenommen werde oder nicht, gleichsam sakrosankt ist. Wir unterwerfen vielerlei besonders wichtige Geschäfte dem notariellen Beurkundungszwang, weil wir sichergestellt wissen möchten, daß der Wille der Beteiligten möglichst fehlerfrei gebildet und dokumentiert werde. Das moderne Schuldrecht ist peinlich genau darauf bedacht, daß der Erklärende das von ihm Gesagte auch wirklich, wirklich, wirklich wollte, andernfalls er auch Wochen nach dem Vertragsschluß diesen noch wirksam widerrufen kann. Und in unserem Sexualstrafrecht anerkennen wir inzwischen auch auf breitester gesellschaftlicher Basis, daß der übereinstimmende Wille zweier beispielsweise homosexueller Partner und dessen Betätigung von der Rechtsordnung respektiert zu werden hat.

In allen diesen Gebieten gilt der alte, jahrtausendealte Rechtsgrundsatz vom „volenti non fit iniuria“ – von der Einwilligung des Betroffenen also, die ausschließt, daß ihm Unrecht geschehe. Warum nur kann und darf dieser Grundsatz im deutschen Gesundheitssystem nicht Geltung erlangen? Was hindert uns daran, dieses Prinzip zum Leitstern auch unserer medizinischen Versorgung zu machen?

6.) Zuendegedacht heißt all dies: Das Verbot, frei und übereinstimmend miteinander Verträge schließen zu dürfen, führt zur Dissensgesellschaft. Eine Konsensgesellschaft entsteht erst dort, wo gemeinschaftliche Bildung und Betätigung von individuellen Willen ermöglicht werden. Das aber bedeutet, daß wir auch im Gesundheitssystem den freien Willen des je anderen endlich wieder respektieren, statt ihn ununterbrochen legislativ, exekutiv – und manchmal sogar judikativ – zu brechen. Denn auch wenn wir bis heute nicht annäherungsweise wissen, was überhaupt „soziale Gerechtigkeit“ sei, so dürfte sie doch jedenfalls eines nicht bedeuten: Die Aufforderung des Gesetzgebers an alle „player“ im System, miteinander im eskalierenden Dissens zu leben.

7.) Zu allerletzt erscheint mir dies wichtig: Ich habe nicht den geringsten Zweifel, daß das bestehende sozialgesetzliche Gesundheitssystem der Bundesrepublik Deutschland dem Tode geweiht ist. Ich stelle dies auch nicht triumphierend, sondern vielmehr beklommen fest. Aber die Struktur dieses Systems ist mit jener der kollabierten DDR-Planwirtschaft identisch. Zentrale Planung statt wirklicher, individueller, zwischenmenschlicher, kreativer Vertragsgestaltungen jeweils vor Ort hat nach allem, was wir wissen, noch immer und überall in den Untergang geführt. Wer dies verkennt oder leugnet, ist entweder ein ahnungsloser Traumtänzer oder ein böswilliger Profiteur der Mißwirtschaft. Es ist alleine der Konsens, der eine Gesellschaft in ihrem Innersten zusammenhält, niemals der von Ferne dekretierte Dissens.

Mit dieser Einstellung muß auch jeder Protest gegen die niedergehenden Strukturen vorgetragen werden. Die Vertreter des Dissenses sind nicht etwa Gegner, die es zu überrennen gilt. Sondern sie sind die möglichen Partner von morgen, mit denen gemeinsam neue Lösungen erdacht werden können. Wer sorgenvoll vor den Mauern eines Verwaltungspalastes demonstriert, der muß demnach bedenken, daß auch innerhalb dieser glänzenden Mauern durchaus Unsicherheit und Befürchtungen über die weiteren Entwicklungen herrschen. Aufgabe der Kritik ist also, den Repräsentanten des scheiternden Systems freundlich und friedlich, aber dennoch eisern konsequent und stets beharrlich ihre Irrtümer und die ihnen – noch – fehlende Perspektive von einer künftig kommenden Konsensgesellschaft im Gesundheitswesen nahezubringen.

1 bei einer Podiumsdiskussion am 28. September 2007 in der Berliner Charité, Hörsaal Sauerbruchweg 2, auf Einladung des ‚Bündnisses Direktabrechnung

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