morbus adac

von Carlos A. Gebauer

Viele Krankheiten werden als „morbus …“ bezeichnet. Die älteren Hypochonder unter uns werden sich auf ewig in großer Zärtlichkeit an die ZDF-Sendung „Gesundheitsmagazin Praxis“ erinnern. Ein Moderator namens Hans Mohl präsentierte jeweils eine bestimmte Erkrankung, wies auf Gefahren hin und belehrte über Therapiemöglichkeiten. Die Ärzte des Landes wußten nach einiger Zeit: Am je nächsten Tage nach der Sendung erschienen bei ihnen massenweise Patienten mit genau der von Herrn Mohl am Vorabend beschriebenen Verdachtsdiagnose. Kenner tauften das sich stets wandelnde Krankheitsbild bald vereinfachend auf den Namen: „morbus mohl“.

Die Besonderheit jenes „morbus mohl“ war, daß er nicht den individuellen Körper einzelner Menschen befiel. Statt dessen handelte es sich um ein Phänomen, das die geistig-seelische Befindlichkeit gleich ganzer Bevölkerungsgruppen betraf. Und als solches war der „morbus mohl“ geradezu eine Art massenpsychologische Erscheinung.

Derartige Sozialmorbi haben das Ende der Sendungen von Hans Mohl überlebt. Wir beobachten heute lediglich auch anderweitige Formen solch kollektiver Befindlichkeits-Dramen. Aus der Vielzahl möglicher Beispiele fasziniert besonders der äußerst verbreitete „morbus adac“.

Der „morbus adac“ ist benannt nach seiner wohl augenfälligsten Erscheinungsform. Am klarsten tritt er nämlich zutage im Straßenverkehr. Als Namensgeber fungiert der allseits bekannte Automobilclub ADAC. Worum geht es?

Jeder deutsche Autofahrer kennt die Situation: Mitten in der Nacht bei strömendem Regen steht eine einsame Person im Scheinwerferkegel ihres fahruntüchtigen Pkw und blickt unter einem zerzausten Regenschirm hilflos in den geöffneten Motorraum. Noch während unsere Augen dieses Bild im rechten unteren Rand des Gesichtsfeldes konturenschwach erkennen – also in einem Zeitraum von näherungsweise 600 Millisekunden – reagieren Gewissen und Gasfuß entscheidungsfroh einheitlich. Wir fahren weiter und denken: Gleich kommt sowieso der ADAC und hilft. Viel kompetenter, als ich es je könnte.

Ob der ADAC jemals tatsächlich kommt – wir erfahren es nie. Aber wir spüren die Gewißheit, daß dieses Schicksal unseres Mitmenschen doch jedenfalls irgendwie geregelt ist und seine Probleme gelöst werden. Von einem anderen. Und genau wie auf der nächtlichen Straße, so verläßt sich auch im totalnormierten Sozialstaat ein jeder immer darauf, daß alles von einem irgendwie Zuständigen zuletzt geregelt wird. Die Probleme des Verbrechensopfers von der Polizei. Die Leiden des Schwerverletzten von dem Notarzt. Die Nöte des Arbeitslosen von der Arbeitsverwaltung und die Ängste des Nachbarn von einem Therapeuten. Auf Kosten der Krankenkasse.

So hat der „morbus adac“ uns alle eines Tages befallen. Und je mehr andere alles zu regeln und zu erledigen versprechen, und je mehr „wir Geld in das System pumpen“, wie man es nennt, desto mehr halten wir uns für freigekauft von dem schlechten Gewissen, weitergefahren zu sein. Mehr noch: Jeden Gewissensbiß therapieren wir flugs mit immer wieder neu geschaffenen Zuständigkeiten. So trinkt das Sozialsystem täglich Salzwasser gegen seinen Durst. Bis es austrocknet. Denn wer Nächstenliebe institutionalisiert, der tötet sie.

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