Die Frage nach dem bügelfreien Stauffenberg

Carlos A. Gebauer

„Die Situation war für die Männer und für ihn unangenehm, also machte ich dem ganzen ein Ende und schoß ihm mit einer 32er Pistole in die rechte Gehirnhälfte mit Austrittsloch am rechten Schläfenbein. Er röchelte noch ein wenig, dann war er tot.“

Che Guevara über die Exekution von Eutimio Guerra am 17. Februar 1957

Es geschah auf einer dieser merkwürdigen Stehpartys, bei denen nur der Gastgeber alle – und sonst niemand irgendjemanden – kennt. In lockerer Runde standen Menschen, die über Urlaubsziele parlierten. Ich schob mich schweigend in den Kreis. Ein Herr schwärmte von Kuba. Noch das abgelegenste Dorf habe Strom. Seine Augen glänzten wie Scheinwerfer im Zuckerrohr. Die Krönung aller Eindrücke aber sei die tiefe Nacht in Havanna. Der marode Charme einer menschenleeren, schwülwarm-laternenlosen Dunkelheit zwischen zerfallenden Stadthäusern sei ihm zu einer lebenslang unvergesslichen Erinnerung geworden. Die Frage meiner linksseits freundlich lächelnden Kreisnachbarin, ob ich denn auch schon einmal dort gewesen sei, verneinte ich wahrheitsgemäß. Zur vorsorglichen Mitleidsprophylaxe fügte ich an, Exekutionsgeräusche aus dem Hinterland jenseits der Dünen für unattraktiv zu halten, während ich in der Gischt bade, weswegen ich von Sonnenurlauben in Diktaturen bislang generell abgesehen habe.

In weniger als zwei Atemzügen war ich nun nicht mehr Teil des lockeren Gesprächskreises, sondern gleichsam Angeklagter eines Party-Tribunals. Eine Menschenmauer des Vorwurfes postierte sich frontal mir gegenüber und schmetterte vielstimmig: „Na, dann passen Sie mal auf, daß die Schüsse, die Sie hören, nicht aus Guantanamo herüberschallen!“ Erst jetzt erkannte ich, daß jenseits der starken Schulter meines rechtsseitigen Nebengastes bäuchlings ein breites Konterfei entschlossen, wenn auch leicht verwaschen, in den Raum blickte: Che Guevara war schon vor mir zur Feier erschienen.

Warum nur, fragte ich mich auf dem bald angetretenen Heimweg, tragen bundesrepublikanische Akademiker mit Wehrdienstverweigererhintergrund ein solches Hemd? Kann es vierzig Jahre nach dem Tode Che Guevaras im bestens informierten deutschen Bildungsstaat tatsächlich noch Wissenslücken zu diesem Mann geben? Denn eigentlich mochte – und mag – ich nicht glauben, daß meine friedensbewegt-irakkriegsgegnerischen, freiheitlich-demokratisch zugrundegeordneten Mitbürger einen verehren, der sagte: „Ich bin wohlauf und lechze nach Blut“. Bislang nämlich machten die meisten aller mir bekannten Akademiker auf mich noch nicht den Eindruck, in einem Zustand intensiverer Schizophrenie dahinzuvegetieren. Wie sonst aber kann man einerseits das Gefängnis von Guantanamo anprangern und andererseits mit einem Che-Guevara-Poster leben? Wie schrieb doch der Angehimmelte in seiner „Botschaft an die Völker der Welt“, die Rudi Dutschke mit Hilfe eines chilenischen Freundes gleich nach ihrer Veröffentlichung übersetzte:

„Der Haß als Faktor des Kampfes; der unnachgiebige Haß gegenüber dem Feind, der weit über die natürlichen Schranken eines Menschenwesens hinaustreibt und es in eine wirksame, gewalttätige, auswählende und kalte Tötungsmaschine verwandelt. Unsere Soldaten müssen so sein; ein Volk ohne Haß kann nicht über einen brutalen Feind siegen. Man muß den Krieg bis dorthin tragen, bis wohin der Feind ihn trägt: in sein Haus, in seine Vergnügungsstätten; man muß ihn zum totalen Krieg machen.“

Zugunsten meiner Mitgäste an jenem Stehpartyabend will ich davon ausgehen, daß ihnen diese augenscheinlich sportpalastwürdigen Gedanken ihres Heroen aus dem Regenwald schlichtweg nicht bekannt sind. Gleichwohl bleibt die bange Frage: Was mag es sein, das sie an ihm bewundern? Ist es sein Wille zur Kompromisslosigkeit im Kampf, der ihnen imponiert? Für Che Guevara gab es kein Leben außerhalb seiner Revolution. Er war bereit, für seine Ziele sein Leben zu geben. Das mag man anerkennen. Aber wie hätten wir gesprochen, wäre ihm 1962 gelungen, sich gegen Chruschtschow durchzusetzen und den atomaren Erstschlag gegen John F. Kennedy zu führen? Was hätte es genützt, wenn die Revolution für die Atomkriegsüberlebenden durch seine Exekutionen zögerlicher Guerilleros rein und der angestrebte geldlose Kommunismus moralisch geblieben wären? Die Erlösung der Menschheit vom Imperialismus mag ihm – ebenso wie seinem Freund und Vorbild Mao Tse-tung – eine geheiligte Sache gewesen sein, nur: Was, wenn der Gegenstand der Erlösung durch dieselbe ausgelöscht wird?

Dringt man dergestalt in die Vorstellungswelt dieser lateinamerikanischen T-Shirt-Vorlage ein, so erschließen sich die abgründigsten Erkenntnisse. Denn die notfalls in Kauf genommene totale physische Vernichtung des kubanischen Volkes zum Zwecke seiner finalen Befreiung stellt im Grunde nur die alternative Kehrseite des ideologischen Hauptzieles dar, die Vernichtung des Individualismus durch kommunistische Disziplin und Eigentumsnegation zu erreichen. Das also war der Mann, den Jean-Paul Sartre für den vollkommensten Menschen unserer Zeit hielt. Und das ist der Mensch, der uns in der Rezeption als Imitatio Christi verkauft wird, als „Christus mit der Knarre“, wie Wolf Biermann textete. Dessen Reinheit dereinst zu erreichen Fidel Castro als Ideal preist. Den die Tupamaros in Uruguay und die mexikanischen Zapatisten zu ihrem Vorbild erkoren, ihren Subcommandante Marcos eingeschlossen, der den Heiligenstatus durch verklärende Gesichtsmaskerade herbeipromoten will. Er fungierte nicht zuletzt als Ikone der westdeutschen APO bis hin zu RAF und Inge Viett, die der Entfremdung des Menschen einen militanten Humanismus entgegensetzen wollten und die – grotesk ist nicht grotesk genug – in seinem einsam-individuellen Kampf ein leuchtendes Vorbild für die kommende Auslöschung des Individuellen sahen.

Wird die Pop-Ikone „Che“ also nach allem an ihren eigenen Widersprüchen zugrundegehen? Es steht zu fürchten, nein. Denn wo sich One-World-Aktivisten vehement gegen Globalisierung stemmen, da darf auch ein radikaler Kollektivist Heiliger des Individualismus bleiben. Der „Gegenpol zu den Bausparern, Kassenpatienten, saturierten Bürgern der westlichen Welt“ also, wie Wolf Schneider sagt, eine „unwiederholbare Mischung aus Jesus, Lenin, Tarzan und Rudolph Valentino“ wird uns wohl noch einige Zeit begleiten. Paradox ist eben noch nicht paradox genug. Che ist einfach – mit einem Wort Michael Mierschs – vor lauter Niedlichkeit das Bambi der korrekten Gesinnung.

Zuletzt bleibt die bohrende Frage: Warum Che Guevara? Warum nicht Claus Schenk Graf von Stauffenberg? Hätte nicht er vor allen anderen den legitimen Anspruch, auf deutschen Brüsten stolz gedruckt und bügelfrei zu prangen? Käme nicht ihm, der sein Leben einsetzte, die Ehre – wenn es denn eine ist – zu, allüberall auf Postern und Plakaten weiterzuleben? Was hindert einen solchen Kult? Daß er nicht verlaust durch den Kongo und den Dschungel Boliviens einem Wahn hinterherjagte? Daß er nicht unrasiert starb? Daß seine Uniform falsche Assoziationen weckt? Daß er nicht medizinisch kunstgerecht wie der gelernte Arzt Che Guevara Hinrichtungen vollzog und Scheinhinrichtungen inszenierte? Daß er nicht Zuckerrohr schlug? Daß sich Andreas Baader und Gudrun Ensslin nicht auf ihn beriefen? Daß sein Tyrannenmord misslang?

Es steht zu fürchten, es ist dies: Stauffenberg war eben der konsequente Individualist, der Anti-Kollektivist und der Mann, den nicht die aberwitzige Idee trieb, uno actu gleich die ganze Welt zu retten. Er wollte einfach nur heldenmutig einen ganz konkreten Irrsinn beenden. Und damit war er eindeutig. Für den dauerhaften Nachruhm in einer politischen Religion ist aber gerade dies hinderlich. Denn wahre Glaube braucht nun einmal das Uneindeutige, Unfassliche, das Widersprüchliche, Groteske, Paradoxe: credo quia absurdum est! Auf der Party sollte es später dann noch Cocktails geben. Ob sich die selbstgewissen Pazifisten auch cuba libre mischten, habe ich nicht mehr mitbekommen.

Literatur: Stephan Lahrem – Che Guevara, Ffm 2005, m.w.N.

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